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Hund trifft Hund: Sind unsere Hunde noch sozial?

Nadine Weissheimer • Nov. 18, 2020

Annäherung von Zweien, die sich noch fremd sind - der Eine klein, der Andere groß, nicht wissend was sie voneinander erwarten können, außer sie lassen sich Zeit zum beobachten.

Am Wochenende habe ich mich mit einer Kundin über das Verhalten ihrer Hunde auf der Hundewiese unterhalten und das Gespräch hallt so sehr in mir nach, dass ich heute nicht anders konnte als meine Gedanken dazu zu Papier zu bringen.

Ausgangspunkt unseres Gespräches war, dass meine Kundin zusehens das Gefühl beschlich, dass sich mindestens einer ihrer beiden Hunde auf der Hundewiese garnicht so wohl fühle, wie sie es immer angenommen habe. Sie fahre eigentlich nur zur Hundewiese, um ihren Hunden ausreichend Gelegenheit zum Spielen zu geben.

Und tatsächlich, wenn wir uns einmal die biologischen Wurzeln unserer Hunde genau anschauen, ist es garnicht so selbstverständlich, dass viele fremde Hunde auf einem Haufen (Hundewiese) zu etwas Gutem führen.

Der Hund als sozial lebender Beutegreifer

Hunde sind biologisch betrachtet sozial lebende Beutegreifer. Ihre Anatomie und ihr Verhalten sind auf diese Lebensweise (sozial, d.h. in kleinen Gruppen) und auf Beutefangverhalten in Gruppen angepasst. Der Vorfahre des Hundes, der Wolf, lebt in Rudeln, das aus dem Elternpärchen und ihrem Nachwuchs in unterschiedlichen Altersgruppen besteht. Die soziale Gruppe des Wolfes ist also dieser Familienverband, das gemeinsam für die Versorgung und Sicherheit der Gruppe sorgt.

Unsere Hunde haben sich durch den Einfluss des Menschen von dieser Lebensweise entfernt. "Freilebende" Hunde wie Straßenhunde leben solitär, d.h. alleine oder in losen Gruppen und erjagen sich ihre Nahrung nicht mehr im Rudel, sondern essen das was der Mensch ihnen übrig lässt. Seine Vorfahren kann der Hund aber trotz seines Lebenswandels nicht leugnen. Um in Gruppen erfolgreich leben und jagen zu können, braucht es eine fein abgestimmte Kommunikation. Eine gute Kommunikation vermeidet Missverständnisse und macht es möglich konfliktarm in Gruppen auch für längere Zeit zusammenzuleben (wer viele Konflikte ausfechten muss, läuft Gefahr sich zu verletzen und an diesen Verletzungen zu versterben). In der Gruppe lebt es sich geschützter und wer zusammenarbeitet kann größere Beutetiere erlegen als alleine. Sich gut und effektiv unterhalten zu können, dient also dem Überleben. Unsere Hunde nutzen diese Befähigung und lesen die menschliche Körpersprache wie kaum ein anderes Tier. Im Windschatten des Menschen haben sie sich nahezu auf der ganzen Welt verbreitet.

Biologisch gesehen und aus der Perspektive eines freilebenden Hundes betrachtet, sind Artgenossen Konkurrenten um allerhand Ressourcen: Sie fressen dieselbe Nahrung, wenn diese nur begrenzt zur Verfügung steht. Sie belegen dieselben Ruhe-, Schlaf- und Rückzugsorte, und sie interessieren sich für dieselben Sozial- und Sexualpartner und konkurrieren somit um denselben Lebensraum. Ein fremder Artgenosse am Horizont ist aus diesem Blickwinkel somit kein unbedingt erfreulicher Anblick: Er könnte uns die Nahrung klauen und wir verhungern. Er kann uns von unseren Rückzugsorten vertreiben und wir frieren, werden nass, angefahren oder bekommen nicht ausreichend Schlaf und Ruhe um den nächsten Tag erfolgreich zu bestreiten. Er könnte uns den Sexualpartner streitig machen und damit dafür sorgen, dass wir unsere Gene nicht weitergeben können, was uns im Spiel der Evolution quasi Schach-matt setzt. Und er könnte uns ganz aus unserem Lebensraum, den wir uns gerade erst erobert haben, vertreiben.

Die Biologie sagt dem Hund also erstmal: Fremde Artgenossen sind nicht unbedingt was super tolles.

Die Hunde über die wir uns unterhalten wollen, leben jedoch nicht unter solchen Verhältnissen. Dennoch ist ihre biologische Grundausstattung immernoch genau dieselbe.

Anpassung an das Leben beim Menschen

Das Leben beim Menschen stellt zunehmend ganz andere Ansprüche an die allermeisten Hunde. Der Lebensraum ist stark eingeschränkt, da viele Hunde in vollen Städten leben und sie müssen sich diesen mit vielen anderen Menschen und Artgenossen teilen. Das bedeutet: Das Treffen vieler fremder Artgenossen auf relativ kleinem Raum ist ein tägliches "Übel" und das ablaufende biologische Programm steht dem mehr oder weniger im Weg. Weitläufiges Ausweichen ist nicht möglich und wird durch die Leine zudem verhindert.

Der menschliche Begleiter ist oft darauf bedacht sich fremden Artgenossen auf die in der Hundesprache unfreundlichster aller Arten anzunähern: Frontal und meistens relativ schnell. Wo das fein ausgeprägte hündische Ausdrucksverhalten den Hund dazu bewegt hätte erstmal das Tempo zu verlangsamen, um den Fremden und seine Absichten besser einschätzen zu können, möchte der Mensch gerne zügig und ungestört am Fremdhund vorbeimarschieren. Wo der höfliche Hund einen Bogen eingeschlagen hätte, bevorzugt der Mensch die Tête a tête Begegnung in High Noon Manier.

Hunde haben es also in dreierlei Hinsicht nicht unbedingt leicht diesem "Problem" zu begegnen. Erst steht ihnen ihre Biologie im Weg, die schon die erste Alarmglocke schellen lässt, dann sorgt ihr Sozialpartner auch noch dafür, dass sie ihre angeborene Art zu kommunizieren nicht nutzen können. Dass Begegnungen unter fremden Hunden so oft Schwierikeiten bereiten, ist also eher vorhersehbar als verwunderlich.

Nun kommen viele Hunde wunderweislich doch ganz gut mit dieser für sie unnatürlichen und unhöflich durchgezogenen Begegnung klar. Warum ist das so?

Einfluss von Zucht und Selektion auf das Sozialverhalten

Für die meisten Menschen ist der sich mit allem und jedem spielende und verträgliche Hund zum Normalbild eines Hundes geworden. Ich hoffe, dass ich mit meinen Ausführungen etwas dazu beitragen konnte besser zu verstehen, das eder mit allem verträgliche Hund keine Selbstverständlichkeit ist. Neben dem Formen von Verhalten (Erziehung) haben auch Zucht und Selektion das Verhalten unserer Hunde immer mehr dem angepasst, was wir Menschen als angenehm empfinden. Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass das ursprüngliche Verhalten abnormal oder krankhaft ist.

Das Paradebeispiel einer Hunderasse bei der die soziale Verträglichkeit besonders in den Vordergrund gerückt wurde, ist der Labrador Retriever. Die meisten Rassevertreter sind oft freundlich, überschwänglich und finden so gut wie jeden fremden Hund und Menschen toll (es gibt natürlich auch Rassevertreter, die zurückhaltender sind und solche, die ihre Rassebeschreibung nicht gelesen haben). Alles was ich über die Biologie des Hundes im obrigen Abschnitt geschrieben habe, scheint für diese Rasse nur eingeschränkt zu gelten. Auch feines Verhandeln um Distanz findet bei ihnen kaum statt, stattdessen wird die Individualdistanz häufig schnell und ohne nachfragen unterschritten.

Das moderne Bild des Menschen vom allzeit freundlichen Hund

Diese durch den Mensch verursachten, selektionsbedingten Verhaltensveränderungen haben unser Bild von unseren Hunden und ihrem Verhalten stark verändert. Hunde, die mehr Abstand brauchen sind Problemfälle. Hunde, die es nicht aushalten frontal aufeinander zuzurennen, sind Rambos. Hunde, die fremde Hunde meiden anstatt mit ihnen zu spielen, sind ganz komische Gesellen.

Fremde Hunde sollen freudenstrahlend miteinander spielen, sich gut verstehen oder mindestens ruhig und friedlich aneinander vorbei gehen. Wir erwarten das, denn das ist unser Bild von einem gut sozialisierten Hund. Dass soziales Verhalten nicht gleichzusetzen ist mit "ich fall dir sofort um den Hals" vergessen wir dabei leider häufig.

Wie verzerrt dieses Bild ist, wird vielleicht klarer, wenn man einmal den Vergleich zum Menschen zieht.

Ein Mensch vom Labrador-Typus wäre beispielsweise jemand, der einem Fremden auf der Straße freudestrahlend in die Arme fällt, ihn auf beide Wangen einen Kuss drückt und dann zum nächsten weiterrennt. Er würde jedem Zweiten anbieten sein Eis mit ihm zu teilen oder gemeinsam eine Runde Gruppenkuscheln zu machen. Wäre das in unserer Gesellschaft ein angenehmes Verhalten? Würden wir das lange tolerieren? Wahrscheinlich nicht, denn auch wir Menschen haben (wie unsere Hunde) eine Individualdistanz und nicht jeder findet es fein, wenn diese ungefragt unterschritten wird. Wahrscheinlich wäre uns eine solche Person sogar unheimlich und unangenehm.

So und jetzt lenken wir nocheinmal den Blick zurück auf unsere Hunde. Sozial bedeutet also eben nicht immer freundlich mit minimalem Abstand auf dem anderen zu sitzen. Sozial bedeutet Signale zu verstehen und angepasst auf sie reagieren zu können. Sozial bedeutet dem anderen Raum zu geben und freundlich Grenzen abzutasten und zu beachten. Sozial wäre es also ersteinmal den anderen kennenzulernen bevor man ihm die Umarmung und die Küsschen auf der Wange anbietet.

Deshalb die Frage: Sind unsere Hunde noch sozial?

Was meinst du?

Fazit:

Die Biologie unserer Hunde macht Artgenossen zu Konkurrenten für Nahrung, Rückzugsplätze, Sexualpartner und allgemein den Lebensraum. Sie bedrohen das Überleben und werden deshalb selten direkt freundlich begrüßt. Es ist deshalb kein abnormales Verhalten, wenn ein Hund fremden ersteinmal skeptisch gegenüber steht.

Hunde haben ein fein abgestimmtes Ausdrucksverhalten und gerade in Begegnungssituationen führt die frontale und schnelle Annäherung zu weiteren Konflikten.

Durch Zucht wurde das Sozialverhalten unserer Hunde verändert. Als Extrembeispiel dient oft eine beliebte Hunderassen wie der Labrador. Diese haben eine stark herabgesetzte Furcht gegenüber Fremden, was sie häufig sehr unempfindlich für die Individualdistanz ihres Gegenübers macht und zeigen sehr juveniles Verhalten auch im Erwachsenenalter.

Vergleichen wir das "Sozial"verhalten eines Labrador-Typus in Menschengestalt mit dem als angenehm akzeptierten Sozialverhalten in unserer menschlichen Gesellschaft dann stellen wir schnell Diskrepanzen fest. Es ist nicht angenehm jemanden direkt auf dem Schoß sitzen zu haben, den man erst seit 10 Sekunden kennt. Genauso geht es auch unseren Hunden.

Hunde können lernen, dass Begegnungen mit Fremden nicht bedrohlich sind. Dazu kann man ihnen zugestehen höflich in hündischer Weise zu kommunizieren indem man das Tempo verlangsamt und an seinen Hund anpasst und ihm beispielsweise anbietet einen Bogen zu laufen und frontale Begegnungen vermeidet.

Kennenlernen auf Distanz: Ein Pipifleck macht die Begegnung ohne direkten Kontakt möglich und ist ein häufig eingesetztes Manöver vieler Hunde - wenn der Mensch es denn zulässt.

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