Blog-Layout

Gibt es eine natürliche Hundeerziehung?

Nadine Weissheimer • Juli 17, 2022
 Ich geb's zu, der Titel ist sperrig aber meine erste Titelidee: "Wieviel Natur steckt noch im Hund" führte sogar meine eigenen Gedanken beim Schreiben in die Irre... deshalb also nun dieser. Keine Ahnung wieviele Menschen sich für dieses Thema interessieren. Für mich persönlich war es nie eine besonders große Sache. Mensch und Hund leben zusammen, aber mit Natur hat das nicht viel zu tun, fertig.

Auf Social Media (obwohl ich mich wirklich da stark einschränke) begegnete mir jedoch letzte Woche vermehrt immer wieder die Behauptung, dass bestimmte (aversive) Trainingsmethoden doch OK wären, weil sie wären ja "natürlich". Zurück zur Natur ist in und ich finde es wirklich super, wenn sich Menschen wieder mehr Gedanken über die Wurzeln ihrer eigenen Bedürfnisse und die ihrer Hunde machen. Wenn es dann aber darum geht Hunde zu schikanieren und das OK zu finden, weil es ist ja Natur... dann kreisen meine Gedanken und dann kommt am Ende dieser Text dabei heraus.


Die Basis einer einzigartigen Partnerschaft

Hund und Mensch sind etwas besonderes, denn es gibt auf dieser Erde kein einziges Wesen, das eine fremde Spezies den eigenen Artgenossen vorzieht. Hunde aber tun das. Für sie ist der wichtigste soziale Partner der Mensch geworden.

Versucht man mit einem Wolf eine ähnlich enge soziale Gemeinschaft einzugehen, so gelingt das nur, wenn dieser Wolf als Säugling von seiner Mutter weggenommen, mit der Flasche aufgezogen und ohne sozialen Kontakt zu anderen erwachsenen Wölfen aber mit engem sozialen Kontakt zum Menschen aufwächst. Eine doppelte Sozialisierung wie wir sie beim Hund finden (auf die eigene Art und den Menschen), wurde beim Wolf bislang in keinem einzigen Experiment erreicht.

Die Beziehung zwischen Menschen und Hunden ist also etwas besonderes. Etwas, das es sonst in der Natur nicht gibt. Warum und wie konnten Hunde nun eine solche Fähigkeit überhaupt entwickeln?

Hunde sind von ihrer genetischen Anlage abgeleitet sozial lebende Beutegreifer. Im Zusammenleben mit dem Menschen haben sie sich allerdings im Vergleich zum Wolf doch deutlich der menschlichen Lebenweise angepasst  (und/oder wurden angepasst - aber dazu später mehr) und haben neue Fähigkeiten entwickelt.

Was ihnen unter anderem sehr zu Gute kommt ist das Sozial- und Ausdrucksverhalten zu dem sie fähig sind. Gruppenlebende Tiere müssen sehr viel genauer und feiner abgestuft kommunizieren können als alleinlebende Tiere. Dies zeigt sich bereits, wenn man die Vielfalt im Ausdrucksverhalten von Wölfen beispielsweise mit anderen engen Verwandten wie Kojoten vergleicht. Deren Gruppengröße ist deutlich kleiner und damit müssen die Tiere auch nicht so fein abgestimmt auf kleinem Raum zusammenleben. Konflikten können sie leichter aus dem Weg gehen anstatt diese ständig unblutig klären zu müssen. Die gemeinsame Nahrungsbeschaffung findet beispielsweise nicht koordiniert im Team, sondern eher als Einzelgängerleistung statt. Was nicht gebraucht wird, entwickelt sich in evolutionären Prozessen oft erst garnicht oder verschwindet wieder. Wölfe (und Hunde) brauchen diese Fähigkeiten aber um mit ihrer Lebensweise als Spezies erfolgreich zu sein und überleben zu können.

Eng zusammen zu leben und gemeinsam Nahrung beschaffen zu können, erfordert einen hohen Grad der Abstimmung untereinander. Man muss erlernen den anderen zu verstehen und gleichzeitig auch eigene Befindlichkeiten und Signale sehr detailliert aussenden können. Versuche haben gezeigt, dass die Fähigkeit Ausdrucksverhalten zu zeigen angeboren ist. Ein Hund weiß "von Geburt an" wie er Angst zeigt, oder Wut, oder Freude, auch wenn die Feinheiten - "das Kleingedruckte" - im sozialen Zusammenleben erlernt und verbessert werden, ebenso wie die Fähigkeit die Signale des gegenüber richtig zu deuten und darauf adäquat zu reagieren (weshalb gerade Welpen vom Zusammentreffen mit gut kommunizierenden und freundlichen erwachsenen Hunden sehr profitieren).

Der Hund als Meister des Beobachtens

Hunde haben es, im Gegensatz zu allen anderen Tieren, gemeistert unser menschliches Ausdrucksverhalten zu lesen, einzuordnen und ihr eigenes Verhalten daran anzupassen. Und zwar in einer Art und Weise, die es ihnen ermöglicht weitestgehend konfliktarm mit uns zusammenzuleben. Der Hund ist damit sozusagen mit seinem Verhalten an das Lebensumfeld, das der Mensch schafft, angepasst. Und an dieser Stelle - so scheint es mir - fangen Menschen dann an seltsame Dinge in Hundeverhalten hinein zu interpretieren und soetwas wie "natürliche" Erziehungsstile zu propagieren.

Da werden Hunde auf den Rücken geschubst und ihnen in die Ohren gebissen, weil das machen Hunde untereinander ja auch so. Mit derselben Begründung werden Schnauzen zugedrückt oder der Oberhammer: Schnauzen mit Seilen zugebunden (ja genau, Seile, 100% Natur pur) und daran gerissen, wenn der Hund etwas macht, das man nicht möchte. Das ist doch alles ganz natürlich!

Eben nicht! Und das gleich aus mehreren Gründen;

Punkt 1: Hunde sind weder blind noch blöd

Hunde wissen, dass wir Menschen und keine Hunde sind. Sie verstehen unsere Körpersprache und sie erwarten von uns, dass wir uns verhalten wie Menschen und nicht wie Hunde. Es gibt also kein Mensch, der sich wie ein Hund verhält, sondern nur ein Mensch, der sich wie ein Mensch verhält und ein Hund, der sich wie ein Hund verhält. Selbst wenn wir es wollten, fehlen uns die Körperteile um adäquates hündisches Ausdrucksverhalten zeigen zu können. Lassen wir es also und bleiben bei dem was wir als Mensch können. Wir können Distanzen vergrößern und verkleinern. Wir können uns ab- und zuwenden. Wir können einen freundlichen Gesichtsausdruck machen und Anspannung in unserem eigenen Körper regulieren. Wir können sprechen und unsere Stimme modulieren. All das sind Signale, die Hunde sehr gut und wenn sie geübt sind sehr fein abgestuft verstehen könne, Aufgrund ihrer einzigartigen Entwicklungsgeschichte an der Seite des Menschen sind sie in der Lage diese Signale schnell lesen, sich darauf einstellen und uns antworten zu können.

Punkt 2: Hunde sind manchmal scheisse zueinander, das heißt nicht, dass wir das auch sein müssen

Es gibt Menschen, die kommunizieren untereinander mit Hilfe von Baseballschlägern oder Fäusten, Die hauen sie sich so lange um die Ohren bis der eine am Boden liegt und der andere nicht. Auch Hunde tun das manchmal und das hat verschiedene Gründe, Oftmals handelt es sich um Überforderung, mangelnde Übung oder nicht ausreichend Zeit und Platz um mit anderen Signalen den Konflikt zu verhindern bevor dieser so eklatant ausbricht. Aber nur weil das eben mal passiert bedeutet das nicht, dass wir als Menschen das für unserer Erziehung übernehmen müssen.

Nehmen wir lieber einmal deutlich wahr, dass Hunde Konflikte eher vermeiden (wenn sie es können) anstatt sich ständig und andauernd aktiv in diese hinein zu begeben.

Punkt 3: Nicht richtig hingeguckt

Gerade das berühmte "auf den Rücken drehen" fusst auf der Annahme das würden Hunde untereinander eben auch so machen. Schaut man mal ganz genau und in Zeitlupe hin (Technik juhu), dann erkennt man, dass Hund A Hund B nicht auf den Rücken dreht, sondern, dass Hund B sich meistens von selbst auf den Rücken fallen lässt (gerade bei Welpen, die ihre kommunikativen Fähigkeiten noch trainieren oft und gut zu beobachten). Das ist ein feiner aber absolut entscheidender Unterschied. Hund B zeigt sich subversiv um damit einem Konflikt zu beschwichtigen oder abzuwenden. Wir Menschen nutzen dieses Rückendrehen oft ganz ganz anders, nämlich als Strafe für etwas, das der Hund angeblich falsch gemacht hat. Der Mensch initiiert den Konflikt während der Hund garkeine Chance hat ihn abzuwenden. Wir nehmen also etwas das wir beobachtet haben und reissen es nicht nur aus dem Kontext, sondern verändern es so sehr, dass es mit dem Ursprungsverhalten garnichts mehr zu tun hat. Und das nennen wir dann "natürlich"?

Tatsache ist: Hunde, die gut miteinander kommunizieren können und ausreichend Raum haben, um ihre Signale auch entsprechend einzusetzen und darauf einzugehen, die geraten garnicht in Situationen in welchen sie sich derart auf die Pelle rücken müssen. Denn Hunde kommunizieren fein, wenn sie es gelernt haben und die Möglichkeit dazu bekommen. Das ist natürlich! Weil sozial lebende Tiere miteinander auskommen wollen und müssen. Sie sind aufeinander angewiesen, jeder offen ausgetragene Konflikt und Kampf birgt das Risiko der Verletzung und damit dem Ende des eigenen Lebens.

Es gibt deshalb keinen Grund als Mensch auf solche aversiven Handlungen zurück zu greifen. Natürlich wäre in diesem Sinne, wenn wir uns auf die sehr fein abgestimmte Kommunikation stützen und diese für uns nutzen würden.

Hunde sind kein Produkt einer natürlichen Umwelt

Hunde sind vom Menschen gemacht. Sie sind durch Selektion, also Zucht, in ihren Fähigkeiten, ihrem Aussehen und vielen ihrer Eigenschaften geformt, weil der Mensch seine Umwelt gerne (aus)nutzt und davor auch beim Hund nicht Halt gemacht hat. Was noch an Natur im Hund "übrig" ist, das haben wir ihm zugestanden oder gezielt gefördert beispielweise seine Fähigkeiten als Jagdhelfer in den verschiedenen Formen, als Hütehunde, als lebende Klingel auf weitläufigen Gehöfen oder zum Wachdienst und Schutz usw..

Fazit:

Es gibt keine natürliche Erziehung. Es gibt nur Hunde und Menschen. Es gibt Menschen, die die Bedürfnisse ihrer Hunde zu nutzen gelernt haben, um ihnen ein angenehmes und glückliches Leben in ihrer Nähe und menschengelenkten Umwelt zu ermöglichen. Und es gibt Menschen, die einfach scheisse zu ihren Hunden sind, ihnen Angst machen und sie damit lenken. Das dann natürliche Erziehung zu nennen, finde ich widerrum einfach Unsinn. Nennt das Kind stattdessen doch bitte beim Namen anstatt sich hinter diesem modetrendtechnisch positiv eingefärbten Begriff zu verstecken und damit Menschen vorzumachen sie täten ihrem Hund etwas gutes, wenn sie ihn so mies aber hey, "natürlich", behandeln.
von Nadine Weissheimer 09 Okt., 2022
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr? Hier erfährst du warum dem nicht so ist.
von Nadine Weissheimer 26 Sept., 2022
Welche Besonderheiten gibt es beim Lernen mit Jungtieren? Gilt der berühmte Satz "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr"?
von Nadine Weissheimer 21 Aug., 2022
Wasser tut ja nicht weh und ist daher kein Problem. Falsch! Und hier kannst du nachlesen warum.
Weitere Artikel anzeigen
Share by: