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Leben mit Angst

Nadine Weissheimer • Okt. 06, 2020

Die blaue Tür öffnet sich langsam. Es hatte in der Nacht geregnet und ein frischer Duft zieht rasch herein. Der Tag ist noch jung und die Sonne versteckt sich heute hinter einigen wenigen Wolken. Am hohen Gras des Grünstreifens gegenüber unseres Hauses hängen noch dicke Tautropfen, die erst nach und nach Verdunsten oder zu Boden fallen werden. Mein Hund Grisu steht im Türrahmen und hält die Nase etwas in den Wind. Auf dem Boden vor ihm liegen ein paar Futterbrocken seines Lieblingsfutters, getrocknetes Entenfleisch. Sie liegen dort noch unbeachtet, noch, denn die Nase in den Wind halten und mit den Augen die Umgebung absuchen, ist jetzt erstmal wichtiger als Fressen. Auch dann wenn es das Lieblingsfutter ist. Ich lasse ihm die Zeit sich zu orientieren und bete innerlich, dass die Stille des Morgens nicht von unschönen Überraschungen durchbrochen wird. An diesem Morgen habe ich Glück und nach kurzer Zeit senkt mein Hund den Kopf zu Boden, um seine Futterbröckchen aufzusammeln und genüsslich darauf herumzukauen. Ich bin erleichtert. Meinem Hund geht es gut und er frisst. Dann folgt der nächste Schritt: Aus der Tür raus, die sichere Höhle verlassend, raus in die schöne morgendliche Welt.

Eine Welt, die für meinen Hund Grisu derzeit häufig unschöne Überraschungen bereit hält, denn mein Hund hat Angst. Angst vor dem durchdringenden Summen von dicken dunklen Fliegen. Angst vor der Nachbarin, die Kissen und Betten ausschüttelt. Der Stoff gibt ein schnalzendes Geräusch von sich. Angst vor der Baustelle in der Ferne, die Gott weiß was tut um diese explosivionsartigen Geräusche zu produzieren. Angst vor Motorrädern, deren Auspuff knattert und knallt. Erst gestern hat er sich vor dem Geräusch erschreckt, das passierte als ich ein Stück Apfel abbiss.

Für meinen Hund Grisu ist dieser Zustand unbeschreiblich schlimm. Seine Wahrnehmung unseres Zusammenlebens unterscheidet sich so maßgeblich von meiner, dass ich oft das Gefühl habe, dass uns ein tiefes Tal, ein dunkler Abgrund trennt. Dieser Abgrund ist seine Angst vor Dingen, die ich als vollkommen unbedrohlich empfinde.

Einmal mehr wird mir klar warum soviele Menschen mit soviel Unverständnis auf das Angstverhalten ihrer Hunde reagieren: "Da ist doch garnichts." Die Wahrnehmung ist einfach so unterschiedlich, dass es sehr schwer fällt die Position des Gegenübers, des Angsthabenden, einzunehmen und mit Verständnis zu reagieren. Das Zusammenleben ist davon geprägt, dass ich als Mensch noch mehr das Gefühl habe in einer anderen Welt zu leben als mein Hund.

Mich schmerzt es zu sehen, wenn er (für mich) wie aus dem Nichts heraus zusammenzuckt und davonlaufen möchte. Ich beobachte mich selbst dabei wie ich den Spaziergang quasi damit verbringe die Umgebung nach möglichen Angstauslösern zu scannen und ich muss mich aktiv davon abhalten genauso angespannt durch die Gegend zu laufen wie mein Hund.

Es schmerzt mich auch zu sehen, wie ich in diesem Moment der Angst hilflos bin, da ich scheinbar nichts tun kann, um ihn vor dieser Angst zu bewahren. Kein "aber da ist doch nichts" wird an seiner Wahrnehmung etwas ändern, dass da für ihn sehr wohl etwas sehr bedrohliches gerade geschehen ist.

Das Blöde ist, dass wenn wir die Angstreaktion beobachten das Kind quasi schon im Brunnen liegt. Das macht extrem hilflos, weil wir das Kind ja doch gerne gerettet hätten, uns die Möglichkeit aber garnicht gegeben wurde.

Das Leben mit Grisu fällt mir auch deshalb derzeit schwer, weil ich weiß, dass es auch anders geht. Grisu war nicht immer so ängstlich. Leider hat der Umzug und der gleich darauffolgende Silvesterhorror dazu geführt, dass wir wieder mit einer erhöhten Anspannung und Angst vor dem Verlassen des Hauses zu kämpfen hatten. Der Ortswechsel setzte ihm zu, dass ihm mit einem male seine bekannte sichere Zone genommen wurde. Dann wurde die Baustelle eröffnet und wir hatten eine Woche wo quasi jeder Spaziergang von den Explosionen abgebrochen wurde. Dann starb Maja, seine Kumpeline, die mit ihrer mutigen Art immer eine Art Anker für Grisu war. Seine Angst ist damit ein Resultat aus Stress entstanden aus dem Ortswechel, Angsterlebnissen an einem unbekannten Ort, Überforderung, Verlust seiner Partnerin und zu wenigen Regenerationsphasen. Aus den langen Spaziergängen sind angespannte Runden durch die Nachbarschaft geworden. Die Zeit in der Natur haben wir eingetauscht gegen Zeit auf Bürgersteigen und schmalen Grünstreifen.

Warum setzt ihr euch nicht ins Auto und fahrt irgendwo hin? Gute Frage, leider hat Grisu auch Angst vor dem Auto und zeigt starke Stress- und Übelkeitsanzeichen beim Fahren. Würde ich ihn täglich ins Auto setzen, wäre das ein weiteres Stressereignis in seinem Alltag.

Angst zu haben, vor allem auch ständig und unvorhergesehen Angst zu haben, ist ein schlimmes Gefühl. Dabei zuzusehen auch. Das geliebte Leben mit seinem Hund gegen einen Spießrutenlauf einzutauschen, ist ein niederdrückendes tägliches Erlebnis. Das Leid auf allen Seiten ist enorm. Keiner hat sich das Zusammenleben so vorgestellt. Da spielt natürlich auch Enttäuschung mit. Aber während der Angsthabende nur selten in der Verfassung ist die Initiative zu ergreifen etwas zu verändern, ist der der zuschaut in der Lage zu handeln und die Abwärtsspirale an unguten Gefühlen zu durchbrechen.

Die ersten wichtigen Maßnahmen sind:

Das Gedankenkarusell stoppen

Der erste Schritt ist wahrzunehmen wann die Gedanken beginnen, um die Angst oder die Angstauslöser zu kreisen. Wann beginne ich zu scannen, wann beginne ich meinen Hund mit angehaltenem Atem zu beobachten, um nach etwaigen Anzeichen für Unwohlsein und Angst Ausschau zu halten. Wann ärgere ich mich darüber, dass mir der schöne Spaziergang entgeht und wir dafür nur von Bordstein zu Bordstein unterwegs sind. Wann fühle ich mich im Gespräch mit anderen unwohl, wenn es um meinen Hund geht. Wann trauere ich den Treffen mit Freunden hinterher, wissend, dass mein Hund es derzeit kaum schafft das Haus zu verlassen. Wann sehe ich andere Hunde, die unbeschwert durchs Leben gehen und denke ganz leise: Das will ich auch.

Wenn ich diese Momente wahrnehmen kann, dann habe ich schon den ersten wichtigen Schritt geschafft. Der Zweite wird nun sein diese Gedanken ziehen zu lassen. Ich will sie nicht verdrängen und ich will sie nicht unterdrücken, denn das kann ich sowieso nicht dauerhaft schaffen. Die Gedanken werden immer wieder kommen. Ich kann nicht steuern ob sie kommen, aber ich kann steuern was danach mit ihnen passiert. Halte ich sie fest und kreise darum oder lasse ich sie los? Ich will nicht auf das Karusell aufspringen, das mich von ungutem Gedanken zum nächsten führt.

Das klingt alles erstmal sehr einfach, tatsächlich ist es eine herausfordernde Aufgabe, denn das Erleben der Angst bei unserem Hund führt unweigerlich dazu, dass diese Gedanken wiederkommen. Gedanken ziehen zu lassen ist genauso wie sovieles eine Übungssache. Je öfter es gelingt ungute Gedankenspiralen zu erkennen, zu erkennen, dass wir wieder an einem unangenehmen Gedanken festhängen und dann aktiv entscheiden: "Darüber möchte ich nicht länger nachdenken." desto leichter wird es uns durch die Übung die wir darin haben gelingen.

Hilflosigkeit bekämpfen - Hilfe holen

Ich bin Trainerin aber im Zusammenleben mit meinen Hunden bin ich auch einfach nur ein Mensch. Ein so starkes Angsterleben ist eine chronische Belastung für meinen Hund. Es wäre tierschutzwidrig den Hund mit dieser Belastung einfach so zu belassen, daher brauche ich Hilfe, um mit dieser Belastung so umzugehen und einen gemeinsamen Ausweg zu finden. Wir sind bei einer Tierheilpraktikerin und einer Tierärztin für Verhaltenstherapie in Behandlung. Wir warten auf den Termin beim Spezialisten, um Grisus Bewegungsapparat einmal gründlich durchchecken zu lassen.

Gerade wenn es um starkes Angsterleben geht, ist es wichtig diese von allen Seiten zu betrachten. Allein der Blick des Trainers genügt oft nicht. Es kann körperliche Ursachen geben, gerade Schilddrüsenerkrankungen haben da leider zu einer traurigen Berühmtheit gefunden, aber auch Schmerzen gehen oftmals mit einer größeren Geräuschsensibilität einher. Es gibt Medikamente, die gegen Angst helfen und Training möglich machen. Da ist die Hilfe der Tierärzte mit verhaltensmedizinischen Fachkenntnissen unabdingbar.

Ganz davon ab, ist es auch für mich als Mensch wichtig Unterstützung und den fachlichen und objektiven Blick von außen zu haben. Ich bin absorbiert von unserem Zusammenleben und die negativen Erfahrungen beeinflussen meinen Blickwinkel stark. Der Blick von außen erdet mich wieder. Meine Hilflosigkeit wird kleiner je besser ich mit Tierheilpraktikerin und Tierärztin zusammenarbeiten kann.

Einen sicheren Rückzugsort schaffen

Am besten eignet sich bei Hunden mit Angst ein Ort der von allen Seiten geschützt ist, beispielsweise eine Hundebox. Durch den Stoff ist die Box meistens auch etwas schallisoliert. Hat der Hund sich bereits einen Ort wie das Badezimmer oder den Keller ausgesucht in den er sich immer zurückzieht, dann wird die Box dort aufgestellt. Unabhängig vom Angsterleben wird dieser sichere Ort einmal pro Tag mit etwas Gutem (Kauartikel, leckeres Futter, Kong zum Ausschlecken etc.) aufgeladen. Der Hund kann so erlernen, dass an diesem Ort etwas gutes auf ihn wartet. Er wird ihn immer häufiger nutzen, um sich sicher zu fühlen. Er fühlt sich dort besser und kann somit seine Angst leichter bewältigen. Wichtig ist, dass an diesem Ort niemals etwas unangenehmes für den Hund passiert und er dort seine Ruhe hat.

Konditioniert Entspannung einüben

Diese Art der gezielt ausgelösten Entspannung benötigt etwas Zeit um eingeübt zu werden. Dabei werden Signale, die später die Entspannung auslösen sollen, gezielt dann in die Nähe des Hundes gebracht, wenn er gerade entspannt ist. Dadurch lernt der Hund diese Signale mit der Entspannung zu verknüpfen. Es hat sich bewährt in den ersten zwei Wochen ca. 30 min am Tag gemeinsam mit dem Hund zu entspannen. Danach kann man sich auch vom Hund entfernen. Signale, die sich gut eignen sind:
  • Düfte (Lavendel, Kamille, Zitrone, Mandarine - gibt es fertig für Hunde zu kaufen, bei reinen ätherischen Ölen, muss das Öl unbedingt 1:10 verdünnt werden), 1-2 Tropfen auf ein Stück Stoff oder ein Halstuch, das dem Hund umgelegt oder in seine Nähe gelegt wird
  • entspannende Musik (ruhige, klassische Musik oder spezielle Entspannungsmusik für Hunde)
  • ein optisches Signal wie zB ein bestimmtes Handtuch, ein Kuscheltier oder eine bestimmte Lampe
Schöne Erlebnisse als Gegengewicht zu den Angsterlebnissen schaffen

Für Hunde, die jeden Tag sehr viele negative Erlebnisse erleben, ist es besonders wichtig ein Gegengewicht zu diesen Erlebnissen zu haben. Kleine Spiele in denen der Hund gezielt kleine Probleme lösen muss, eignen sich gut. Wenn sie täglich gespielt werden, fördern sie die Problemlösefähigkeiten und führen zu mehr Selbstbewusstsein, die im Alltag sehr nützlich sind. Aber auch Momente wo der Hund einfach nur Spaß zusammen mit dem Menschen hat, sind wichtig und man sollte sich täglich Zeit dafür nehmen.

Schön kann auch einfach nur sein zusammen auf dem Sofa zu liegen und zu entspannen, wahrzunehmen was für eine wunderbare Seele uns durch unser Leben begleitet, die es wert ist, dass wir diesen Graben, der uns nur scheinbar trennt, überwinden. Es wird Zeit in Anspruch nehmen und es wird nicht einfach sein. Es kostet auch Geld Tierärzte und Verhaltensberater zu bezahlen. Es kostet Kraft jeden einzelnen Tag der Angst zu begegnen. Aber es lohnt sich für ein besseres Leben zu kämpfen und dranzubleiben und das spüre ich in diesen Momenten ganz besonders.
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